21. Februar 2024
Der cineastische Trend der Saison heisst: Understatement. Ridley Scott zeigt uns Napoleon so beherrscht, dass man sich am Ende wundert, dass der so viele Kriege vom Zaun gebrochen hat. Sofia Coppola präsentiert uns die Romanze von Priscilla mit Rockstar Elvis in Watte gepackt und Adam Drivers Enzo Ferrari in Michael Manns Biopic wirkt eher wie ein britischer Gentleman denn wie ein italienischer Formel-1-Tycoon, der für seine Temperamentsanfälle berüchtigt war.
Ich liebe Understatement, aber bei allen Filmen habe ich gedacht: Mehr Emotionen hätte den Titelfiguren gutgetan. Der Grossmeister des cineastischen Understatements ist aber Regisseur Todd Haynes. Ob in «Fram From Heaven», «Carol» oder jetzt in seinem neusten Wurf «May December»: Der Amerikaner macht aus pikanten amourösen Boulevardstoffen elegantes Feuilleton-Kino über gesellschaftliche Tabubrüche. Wenn John Waters auf der Spannweite das Extrem der Effekthascherei bildet, so ist Haynes am anderen Ende der Skala der Champion der Eleganz und Subtilität, wobei sich seine Filme nicht minder tief einprägen als jene des Trash-Papsts Waters. Hier erzählt Haynes eine Story, die auf der Blacklist der besten unverfilmten Ideen Hollywoods figurierte und nun in der Kategorie «bestes originales Drehbuch» für einen Oscar nominiert ist. Gott sei Dank, ist sie in die richtigen Hände geraten.
Natalie Portman ist die Schauspielerin Elizabeth, die in einem Independent-Film nach wahren Begebenheiten Grace (Julianne Moore) verkörpern soll. Diese hatte vor 23 Jahren eine Beziehung mit einem Jungen. Grace war damals 36 Jahre alt, Joe 13. Sie kam deswegen ins Gefängnis, die Revolverblätter schrieben die Affäre zum Skandal hoch. Heute leben die beiden Turteltäubchen als Ehepaar mit drei Kindern im Gliedstaat Georgia. Dort besucht sie Elizabeth, um im direkten Gespräch mit Grace und Joe herauszufinden, was sie antrieb.
Stars in Höchstform
Aus dieser Geschichte könnte man – gerade heute, im Zeitalter der Neomoralisten und Pharisäer – einen skandalträchtigen, anklagenden Film machen. Todd Haynes begegnet aber in «May December» seinen Figuren auf Augenhöhe und übernimmt in der dramaturgischen Tonalität die Unaufgeregtheit und Selbstverständlichkeit von Grace und Joe, für die ihre Beziehung nichts Abnormales hat. Elizabeth wirkt im Haus wie ein Fremdkörper, was Haynes, der über Bilder zu erzählen und Bedeutung zu erzeugen weiss dadurch verdeutlicht, dass er sie beim Essen leicht entrückt am Tischende sitzen lässt.
Wie in einem Krimi lässt uns Haynes durch die Augen von Elizabeth ins Milieu eintauchen, bloss entdecken wir dort keine Tatzusammenhänge, sondern eine aussergewöhnliche Liebe zwischen zwei Menschen aus unterschiedlichen Generationen, worauf auch der Filmtitel anspielt – May December steht im Amerikanischen für romantische Beziehungen zwischen einer jungen Person (im Lebensfrühling) und einer viel älteren (im Winter des Lebens stehenden). Zwar lotst uns die Thrillermusik mit hämmerndem Klavier immer wieder auf die falsche Fährte der Kriminalistik, doch nicht zum Nachteil des Zuschauers. Ich habe es geschätzt, in einem Film zu sitzen, deren Figuren in den Bann ziehen, und bei dem man nie weiss, was als nächstes passiert. Letztlich ist ein «May December» eine Reflexion darüber, dass man andere Menschen nie ganz verstehen kann, wenn man ihnen mit Vorurteilen begegnet.
Wie immer unter der Regie von Todd Haynes laufen die Stars zu Hochform auf: Julianne Moore, die schon zum sechsten Mal mit Haynes zusammenarbeitete, spielt ihre Figur grandios als Frau, die nach Aussen stärke markiert und im Innern der Familie ein nervliches Wrack ist. Die sichtlich gereifte Natalie Portman brilliert in ihrer besten Rolle seit «Black Swan» (2010) als Diva, die quasi den Recherche-Rahmen verlässt und sich selber sexuell auf den Boyfriend von Grace einlässt. Dieser wird von Charles Melton in einer star-making-Performance als erwachsener Backfisch verkörpert – was für eine Entdeckung!
Ausgezeichnet in Zürich
Mich begeistert «May December» aber vor allem auch mit seiner eleganten, schnörkellosen Regie, die sich an der Meisterschaft eines Douglas Sirk orientiert. Deshalb war es uns auch eine grosse Ehre – Verleiher Ascot Elite sei Dank – «May December» am letzten Zurich Film Festival als Gala-Premiere zeigen und Todd Haynes unseren A Tribute to...-Award überreichen zu dürfen. Umso mehr, als Haynes ein Stammgast am ZFF ist und eine grosse Fangemeinde in der Schweiz hat. «May December» ist grosses Autorenkino für Liebhaber des klassischen Erzählkinos.