Schweizer Filmpreis: Fred Baillif im Interview
10. März 2022
Am 17. Zurich Film Festival ist das authentische Sozialdrama LA MIF im Fokus Wettbewerb mit dem Goldenen Auge prämiert worden. Nun darf Regisseur Fred Baillif auf weitere Auszeichnungen hoffen: Gleich in sechs Kategorien ist LA MIF für den Schweizer Filmpreis nominiert. Wir haben beim Filmemacher nachgefragt, wie er die Dreharbeiten erlebt hat und was ihm Filmpreise bedeuten.

Fred Baillif an der Award Night des 17. ZFF. © Photo by Andreas Rentz/Getty Images for ZFF
«Wer bist du?» – «Die Punkkönigin im Land der Arschlöcher.» Schon ab der ersten Sekunde wird man in LA MIF mitten ins Getümmel eines Mädchenheims geworfen. Die meisten Bewohnerinnen kommen aus zerrütteten Verhältnissen und finden hier eine Geborgenheit, die sie vorher nicht kannten. Die Heimleiterin Lora tut alles, um ihre Schützlinge zu unterstützen, doch in dieser wild zusammengewürfelten Ersatzfamilie sind Konflikte vorprogrammiert.
Für sein Drama hat Regisseur Fred Baillif mit tatsächlichen Heimbewohnerinnen zusammengearbeitet, die am Drehbuch mitschrieben und improvisierten. Ungehemmt und beeindruckend sind die Darstellungen der jungen Frauen, die trotz ihrer Schicksalsschläge vor Temperament und Lebenshunger strotzen. LA MIF ist am 17. Zurich Film Festival im Fokus Wettbewerb mit dem Goldenen Auge honoriert worden. In dieser Kategorie stehen Filme aus der Schweiz, Deutschland und Österreich im Fokus. Gekürt wird der Gewinnerfilm von einer Jury.
ZFF: Das Sozialdrama LA MIF spielt in einem Mädchenheim. Die meisten Bewohnerinnen kommen aus zerrütteten Verhältnissen und finden hier eine Ersatzfamilie. Was hat Sie dazu bewogen, Ihren Film in diesem Umfeld anzusiedeln?
Fred Baillif: Zu Beginn des Projekts wollte ich sexuellen Missbrauch innerhalb von Familien thematisieren. Denn im Zuge der MeToo-Debatte haben mir viele Frauen aus meinem persönlichen Umfeld von ihren tragischen Erfahrungen berichtet. Das wollte ich in meinem nächsten Film aufgreifen. Ich suchte also ein Umfeld, in dem ich sexuellen Missbrauch ansprechen konnte, ohne dass es das Hauptthema sein würde.
Ich besuchte deshalb das Heim, in dem ich vor mehr als zwanzig Jahren als Student gearbeitet habe. Dort lernte ich Hauptdarstellerin Claudia Grob kennen, die mir völlig offen begegnete und mich den anderen Mädchen und den Sozialarbeiterinnen vorstellte. Schliesslich sagte sie zu, im Film quasi sich selbst zu spielen. Natürlich wusste sie, dass ich eine fiktionale Geschichte erzählen und nichts aus ihrem wahren Leben Teil des Films sein würde.
Die Mädchen haben selbst am Drehbuch mitgeschrieben oder improvisiert. Wie haben Sie die Filmarbeiten erlebt?
Ich glaube, dass sich die Mädchen in der Thematik besser auskennen als ich. Das Heim ist ihr tägliches Umfeld und sie haben einige der Dinge erlebt, über die ich im Film spreche. Mir war bewusst, dass ich die Zeilen für ihre Figuren nicht in ihrer authentischen Art und Weise würde schreiben können. «Sie wissen es besser» – das war meine Philosophie für diesen Film.
Es war mir deshalb wichtig, bei der Entwicklung der Geschichte ihre Zustimmung einzuholen. Denn während den Dreharbeiten kam für die Mädchen vieles überraschend. So kannten sie beispielsweise das Drehbuch im Vorhinein nicht und entdeckten die Story jeden Tag auf dem Set. Dieses Vorgehen setzt eine enge Beziehung und gegenseitiges Vertrauen voraus. Ich verbrachte im Vorfeld deshalb viel Zeit mit ihnen, um sicherzustellen, dass ich sie gut genug kennen und keine Fehler machen würde.
Ich war zudem sehr darauf bedacht, dass die Geschichte fiktional bleibt. Die Reaktionen und Persönlichkeiten der Darstellerinnen sind zwar echt, ihre Geschichten aber erfunden – ausser die Mädchen wünschten ausdrücklich, Elemente aus ihren wahren Leben in den Film aufzunehmen. Von Anfang an war das die Abmachung.
Das war die Art und Weise, wie ich bei diesem Film gearbeitet habe. Es begann mit vielen Interviews und Workshops, bei denen wir den Darstellerinnen unter anderem vermittelt haben, wie Improvisation ein Instrument sein kann, um in bestimmten Situationen vor der Kamera sich selbst zu bleiben. Es war ein äusserst langer Prozess und ich könnte stundenlang darüber sprechen.
Am 17. Zurich Film Festival hat LA MIF in der Sektion «Fokus Wettbewerb» das Goldene Auge gewonnen und ist nun gleich in sechs Kategorien für den Schweizer Filmpreis nominiert. Was bedeuten Ihnen solche Auszeichnungen?
Nach Zürich zu kommen und das Goldene Auge im Fokus Wettbewerb zu gewinnen, war für mich wirklich aussergewöhnlich. Von allen Preisen, die ich bisher erhalten habe, ist das für mich einer der bedeutendsten. Und das sage ich nicht, um nett zu sein, sondern weil wir in einem Land leben, in dem der «Röstigraben» Realität ist. Für Schweizer Filme ist es nicht einfach, diese Barriere zu überwinden. Der Gewinn des Goldenen Auges zeigt mir aber, dass es möglich ist. Und dass wir als Land gemeinsam Filme teilen können. Das ist für mich ein gutes und wichtiges Zeichen. Gleiches gilt für die Nominationen für den Schweizer Filmpreis. Ich hoffe natürlich, nun mindestens auch in einer Kategorie zu gewinnen.
Zur Person
Der Schweizer Frédéric Baillif (geboren 1973) machte seinen Abschluss am Institut d'études sociales und brachte sich das Filmemachen selbst bei. 2006 erhielt sein Dokumentarfilm GEISENDORF den Preis der Vision du Réel und sein erster Spielfilm TAPIS ROUGE wurde am GIFF ausgezeichnet. LA MIF hatte seine Weltpremiere an der Berlinale, wo er in der Sektion «Generation 14plus» gezeigt wurde.
Filmografie (Auswahl): La Mif (2021) | Tapis Rouge (2015) | Geisendorf (Dok, 2006) | Sideman (Dok, 2003)
Die Verleihung des Schweizer Filmpreises findet am 25. März in Zürich statt. Eine Übersicht der nominierten ZFF-Filme gibt es hier.
zurück